Presse

HOW TO DATE A FEMINIST


Freie Presse von Katja Lippmann-Wagner

Wintersetin-Premiere – Wahre Liebe oder die Tücken des Feminismus



Mit der Liebe ist das so eine Sache. Einerseits suchen Frauen die aufrichtige Liebe, andererseits stehen sie auf Machos. Kate bildet keine Ausnahme. Warum sie sich dann doch in den Feministen Steve verliebt, erzählt die geistreiche und herzerfrischende Komödie „How to date a feminist“ – Wie angele ich mir einen Feministen" von Samantha Ellis (deutsch von Silke Pfeiffer), die am Samstagabend im Eduard-von-Winterstein-Theater Annaberg-Buchholz seine Premiere feierte. Die Drehbühne hatte unter der Regie von Catharina May jede Menge zu tun – genauso wie die beiden Schauspieler Nadja Schimonsky und Rouven Klischies, die eine sagenhafte Vorstellung hinlegten. Es ist kein Wunder, dass das Publikum im nicht ausverkauften Theater minutenlang am Ende Beifall spendete und sich sogar von den Plätzen erhob. Rollenwechsel sorgen für starke Momente
Das amüsante Zweipersonenstück fordert den Darstellern alles ab. Je drei Rollen müssen sie spielen. Ein gut durchdachtes Bühnenbild von Jenny Schleif und brillante Kostüme unterstützen. Einerseits dominiert das Bühnenbild ein riesiges Plakat, dass einen Mund zeigt, der in eine Blutorange beißt. Andererseits ein Zimmer, mit großer Glasfront, das an moderne Architektur erinnert. Bemerkenswert auch: Das Stück beginnt mit dem vermeintlichen Happyend. Dort, wo normalerweise der Vorhang fällt, startet die eigentliche Handlung. Feminist Steve – Rouven Klischies trägt einen roten Glitzeranzug, der den Augen wehtut – macht seiner Kate im schrillen roten Tülloutfit einen Heiratsantrag und entschuldigt sich für das Patriarchat und alle Verbrechen dieser Welt, die man Frauen je angetan hat. Das Füßebinden in China sei beispielhaft genannt. Kate stimmt mit ohrenbetäubendem Seufzer seinem Antrag zu und die Handlung setzt mit einer Rückschau fort. Das Publikum sieht Kate und Steve bei einem Kostümfest. Beide sind enttäuscht, verlassen und nicht füreinander bestimmt. Doch es kommt zum ersten Date, auf das sich Kate mit viel Make-up vorbereitet. Dabei wünscht sich Steve, der in einem Frauenprotestcamp aufwuchs, dass Kate einfach nur Kate ist. Die schnellen Rollenwechsel, herrliche und kurzweilige Dialoge und zwei fantastische Darstellen stehen für einen vergnüglichen Theaterabend.


PÜNKTCHEN UND ANTON


Der Standard von Julia Nehmiz

Das Gute siegt! – "Pünktchen und Anton" am Landestheater Vorarlberg

 

Ein armer Bub schließt Freundschaft mit einer Fabrikantentochter, soziale Klassen vermischen sich – und so wird alles gut. Diese verkürzte Botschaft aus Erich Kästners Buchklassiker Pünktchen und Anton hält auch neunzig Jahre nach seiner Ersterscheinung 1931 das vorweihnachtliche Bühnengeschehen in Schwung. Am Vorarlberger Landestheater Bregenz hätte die Originaltheaterfassung in der Regie von Catharina May schon 2020 Premiere feiern sollen. Einige Lockdowns und ein Jahr später war es dann am 20. November so weit. Nach einem weiteren Lockdown steht das Klassismus-Stück rund um Luise Pogge aka Pünktchen und Anton seit dem dritten Adventsonntag wieder auf dem Spielplan.

Nach der Premiere strahlten nicht nur die in etwa drei Dutzend Kinder; auch das ältere Publikum jubelte. Intendantin Stephanie Gräve zeigt das Märchen als Abovorstellung. Das kommt beim Publikum gut an, zumal Schulvorstellungen weiterhin untersagt sind. Schulen können einstweilen das Video einer aufgezeichneten Vorstellung erwerben. Pünktchen und Anton, für Kinder ab sechs Jahren empfohlen, hat jedenfalls die richtige Botschaft zur Weihnachtszeit. Die Geschichte lässt einen an das Gute im Menschen glauben.

Herz am rechten Fleck

Pünktchen (energiegeladen: Maria Lisa Huber) hat das Herz am rechten Fleck, für die wohlstandsverwahrloste Tochter ist das Leben ein einziges Abenteuer. Mit ihrem Kindermädchen verkauft sie nachts heimlich Streichhölzer auf der Straße. Ihre Eltern haben nie Zeit, Papa ist Generaldirektor, Mama muss shoppen. Pünktchens Freund Anton lebt am anderen Ende der Wohlstandsskala und muss Geld für die Haushaltskasse auftreiben (OP der Mutter).

Als einer der Ersten hatte Kästner soziale Ungerechtigkeit in einem Kinderbuch thematisiert. Er erzählt davon schnörkellos, nimmt die Kinder ernst. Das machen Regisseurin May und ihr Ensemble ebenso – mit einem liebevollen Schuss Verrücktheit dazu. Sie zeigen sympathische schräg überzeichnete Figuren, Wicke Naujoks steckt sie in knallige Kostüme. Auch das Bühnenbild von Jenny Schleif ist verspielt, drei verschieb- und aufklappbare Holzhäuser werden zur Straßenkulisse, sind herrschaftliches Esszimmer, ärmliche Küche oder Tanzlokal.

Die Bregenzer Bühnenfassung hält sich eng an die Vorlage und lässt kurz den Lockdown anklingen: Pünktchen und Anton ahmen im Spiel die Fahrt in einem Faltboot über den Ozean nach: "Oh nein", sagt Anton, "Windstille." – "Wie lange?", fragt Pünktchen. – "Sehr lange. Drei Wochen", antwortet Anton. Das Premierenpublikum lacht.




Neue Vorarlberger Tageszeitung von Lisa Kammann

Happy End noch vor dem Lockdown

 

Zum Glück konnte sie noch stattfinden, die Premiere des Familienstücks "Pünktchen und Anton", das am vergangenen Samstagabend ohnehin bereits um ein Jahr verspätet

auf die Bühne kam. Trotz des herannahenden Lockdowns und Umbesetzungen wurde der

Schritt gewagt, und am Vorarlberger Landestheater war noch ein herzerwärmend schöner

Abend zu erleben - sowohl für die Erwachsenen als auch die anwesenden Kinder. Diese sind offenbar liebend gerne dieser spannenden Geschichte gefolgt, die viele liebenswerte und auch schräge Figuren bereithält. Nun ist nur noch zu hoffen, dass die gleich ab 13. Dezember geplante Aufführungsreihe dann auch wirklich fortgesetzt werden kann: Es wäre ein Gewinn für das vorweihnachtliche Kulturangebot in der Region. Für die Zuschauer ab sechs Jahren hat Regisseurin Catharina May eine leicht erfahrbare, zugleich aber eben auch spannende und abwechslungsreiche Erzählweise entwickelt: Kurze Szenen wechseln sich rasch ab, da staunt der Zuschauer schon manchmal, wie schnell die mobilen Holzhäuschen zu einer anderen Szenerie umgebaut werden können (Bühne: Jennifer Schleif). Der Autor von "Pünktchen und Anton" Erich Kästner hatte in den 1931 erschienenen Roman "Nachdenkereien" eingestreut, in dieser Theaterproduktion fand man ein anderes passendes Mittel, um dem Stück einen kommentierenden Rahmen beizugeben: Luzian Hirzel zeigt sich neben seinen weiteren Rollen als Herr Zeigefinger, der zusammen mit dem Publikum das Geschehene reflektiert und Fragen aufwirft, sich aber auch immer wieder charmant in die Szenen einbringt.

Natürlich sind es die beiden Titelrollen, die dieses Stück bestimmen. Ein bisschen frech, aber sehr liebenswert, vor allem mit übersprudelnder Energie und Fantasie lässt Maria Lisa Huber Pünktchen auf der Bühne erscheinen. Luise Pogge, dem Mädchen aus reichem Hause, mangelt es an nichts Materiellem, nur der Vater hat nie Zeit für seine Tochter, und die Mutter interessiert sich mehr für den Zuwachs ihrer Garderobe.

Lustig ist Nico Raschner, der sowohl als Pünktchens Vater als auch als Einbrecher Robert ein großes rundes Bäuchlein hat. Viele Lacher erzeugt auch Vivienne Causemann als Pünktchens Mutter, die - bevorzugt in Pink, mit High Heels und riesen Schleife im Haar - über ihre Migräne klagt (Kostüme: Wicke Naujoks). Dass man sich bei den Events der High Society mit den "Sagmeisters" und "Rhombergs" trifft, das findet vor allem das erwachsene Vorarlberger Publikum witzig.

Eine beeindruckende Leistung zeigt Sebastian Schulze, der sehr kurzfristig für David Kopp einspringen musste, sich dafür aber ausgezeichnet in seine Rolle als Anton eingefunden hat.

Der Junge kümmert sich wie ein Erwachsener um seine kranke Mutter und versucht, im Straßenverkauf genug Geld zu verdienen. Im Spiel mit Pünktchen aber kann Anton hingegen einfach ein Kind sein - es ist sehr rührend, die Freundschaft der beiden mitzuerleben, und sie dabei zu beobachten, wie sie ihre Streichhölzer und Schuhbänder auf der Straße feilbieten.

May lässt es sich in dieser Inszenierung nicht entgehen, den amüsanten Höhepunkt der Erzählung auszukosten: Robert der Teufel bricht mit Hilfe von Fräulein Andacht (auch im Mehrfach- Einsatz: Bo-Phyllis Strube) in die Wohnung der Pogges ein. Mit dem beherzten Einsatz der dicken Berta (Hirzel) gelingt es, den Übeltäter zu schnappen. Die mehrfachen Schläge mit der Bratpfanne sorgen für Lacher und haben sich also gelohnt. Das glückliche Ende gelingt und wird entsprechend zelebriert, das gibt Szenenapplaus, der an diesem Abend mehrfach ausbricht. Doch dann kehrt Herr Zeigefinger auf die Bühne zurück und erinnert daran, dass ein Happy End im Theaterstück einfacher ist wie im echten Leben, das nicht immer gut ausgeht. Doch es sei möglich, dass das Leben wieder zum Paradies wird, wenn man sich nur gegenseitig helfen, ein wenig von seinem Reichtum abgeben würde. Wenn das kein passendes Advents-Familienstück ist!




Vorarlberger Nachrichten von Christa Dietrich

Klassiker mit Regionalakzent- Begeisterung für "Pünktchen und Anton" als Abschiedsstück mit Hoffnung auf Rückkehr


Die Windstille dauere nun drei Wochen heißt es einmal, wenn Luise Pogge und Anton Gast als Zeichen ihres Veränderungswillens mit dem Boot übers Meer segeln. Der kleine, vermutlich nicht einmal von allen bemerkte Verweis auf die momentane Situation darf sein, schon vor einem Jahr war die Aufführung der Produktion "Pünktchen und Anton" am Vorarlberger Landestheater wegen der Pandemie verboten, nun, nachdem neben dem entsprechenden hygienischen Verhalten längst Impfmittel zur Verfügung stünden, hat die Unvernunft vieler wieder zum Aus geführt. Am Samstagabend

war das Bregenzer Kornmarkttheater jedenfalls relativ gut besetzt, das Publikum ging nicht nur d`accord damit,dass die Premiere des großen Familienstücks im Jahresspielplan nicht am Nachmittag stattfindet, es hat die eineinhalb Stunden wohl auch genossen, weil es so etwas auch für die Geimpften und konsequent Abstandhaltenden nun nicht mehr gibt. Am 13. Dezember, dem Tag des von der Regierung prognostizierten Lockdownendes, steht das Ensemble um Intendantin Stephanie Gräve

jedenfalls schon wieder parat, gespielt würde somit auch dann werden, wenn die Auflagen entsprechend streng sind. An die Vernunft und Solidarität der Menschen

zu glauben, fällt allerdings schwer, "Pünktchen und Anton", der Kinder-

und Jugendbuchklassiker, ist ein gutes Beispiel dafür. Im Jahr 1931 ist das Werk von Erich Kästner erschienen, das Aufzeigen der Kluft zwischen Arm und Reich ist dem

Genre entsprechend zwar relativ plakativ, existent bzw. ein Problem ist sie auch noch 90 Jahre später - in Zeiten des oft zitierten allgemeinen Wohlstands.

Die Inszenierung von "Pünktchen und Anton" am Landestheater ist so witzig und gleichzeitig so ernst, dass nach dem Lockdown jedenfalls Tolles für die Besucher parat steht. Aus der Vorlage ein Konzept für ein lebendiges, humorvolles und auch actionreiches Theaterstück zu erstellen, ist eine Herausforderung, obwohl es bereits

einige Bühnenadaptionen inklusive einer Oper gibt. Den Reaktionen war zu entnehmen, dass Regisseurin Catharina May dem jungen Publikum auch sehr viel Spaß bereitet hat, den ersten allgemeinen Szenenapplaus gab es bereits beim Auftritt der Figur des Zeigefingers, der dem von Kästner eingeführten Kommentator entspricht. "Im Leben

bleibt es oft aus, das Glück, aber das hier ist ein Theaterstück", sagt er. Wir wissen es, Pünktchen und Anton klären nicht nur einen Kriminalfall auf, in den die Erzieherin Fräulein Andacht verstrickt ist, der reiche Vater von Luise, dem Pünktchen, besinnt sich nicht nur auf seine familiären Pflichten, er stellt auch Antons Mutter bei sich an, wodurch der Bub von der Kinderarbeit erlöst wird. Ob sein soziales Gewissen soweit aktiviert wird, dass er und seine verschwendungssüchtige

Frau auch das Gemeinwohl im Sinn haben, erfahren wir nicht mehr. Aber vielleicht kommen sie auch ohne die eine oder andere Party aus. Dass diese bei Sagmeisters und

Rhombergs stattgefunden haben ist eine augenzwinkernde Bissigkeit, die bei jenem Publikum, das die Namen einordnen kann einen weiteren Lacher hervorrief. Das Schöne an dieser Inszenierung ist, dass es gelingt, die einfache Geschichte mit witzigen Details so zu überzeichnen, dass die Moral in luftig-leichter Verpackung daherkommt

und vielleicht gerade deshalb auch nach dem Theaterbesuch beschäftigt. Die Bühne von Jennifer Schleif mit den verschieb- und aufklappbaren Häuschen bildet einen schönen Rahmen mit Seilakrobatik werden Traumszenen deutlich und die Kostüme von Wicke Naujoks sind so kunterbunt, dass sie die Aufmerksamkeit einer comicsverwöhnten

Generation erreichen. Die Musik (Matthias Grote) ist stimmig, man hätte sie sich da und dort aber noch etwas eingängiger und akzentuierter gewünscht. Das ist aber nur

ein Detail, das Ensemble liefert in jeweils mehreren Rollen Bravourleistungen.

Auf den Punkt gebracht Luzian Hirzel erzeugt als Zeigefinger und Berta besten Theaterzauber, Vivienne Causemann ist ein derart agiler Klepperbein und eine derart skurrile Mutter, dass das Stimmungsbarometer unweigerlich steigt, Nico Raschner zeigt

ein rührendes Auftauen des Vaters, Bo-Phyllis Strube gelingt es den inneren Konflikt des Fräulein Andacht in den kleinen Momenten, die ihr zur Verfügung stehen, zu

verdeutlichen. Und dann ist da ja das Pünktchen, mit dem Maria Lisa Huber Neugierde, Verletzbarkeit, aber auch die Kraft eines Kindes zeigt. Dass der erfahrenere Anton nicht altklug wirkt, ist das Verdienst von Sebastian Schulze. Er hat den

Part des erkrankten David Kopp kurzfristig übernommen und zeigt uns einen Jungen, der das Empathievermögen trotz seines harten Schicksals noch in sich trägt. Die Kinder schließen ihn wohl ins Herz, den aufmerksamen Erwachsenen dürfte nicht entgangen sein, dass er einen jungen Menschen in einer Phase zeigt, in der er Gefahr laufen

könnte, Hetzern in die Hände zu laufen. Hier geht alles wunderbar gut aus, "Pünktchen und Anton" macht sehr viel Spaß, es steckt aber auch sehr viel Ernstes in diesem

Kinderbuchklassiker, das die Inszenierung mit feinen Verweisen auf den Punkt bringt.




KULTUR - Zeitschrift für Kultur und Gesellschaft von Walter Gasperi

Leichthändig verspielt und dennoch engagiert – Erich Kästners „Pünktchen und Anton“ als Weihnachtsstück am Vorarlberger Landestheater


Eine klar aufgebaute Geschichte, zwei gegensätzliche Milieus, ein bestens aufgelegtes Ensemble, treffliche Kostüme und eine ebenso einfache wie wunderbar variierbare Bühne machen das heurige Weihnachtsstück zu einem herzerwärmenden Vergnügen für Jung und Alt.

Als Roman erschien Erich Kästners "Pünktchen und Anton" 1931, wurde aber noch im gleichen Jahr kurz vor Weihnachten auf die Bühne gebracht. Zwei Verfilmungen folgten ebenso wie eine Comicversion, eine Kinderoper und ein Musical. – Einen echten Klassiker hat sich das Vorarlberger Landestheater als Weihnachtsstück damit ausgesucht.
Geplant war dieses Stück freilich schon für letztes Jahr, doch fielen die Aufführungen dem Lockdown zum Opfer. Auch heuer folgte auf die Premiere am 20. November eine dreiwöchige Pause aufgrund des neuerlichen Lockdowns, doch nun sollte sich dieses Stück zu einem echten Renner entwickeln.

Fokus auf sozialer Ungleichheit

Auf Aktualisierungen hat Regisseurin Catharina May weitgehend verzichtet. Wenn von Geld die Rede ist, geht es so um Mark und das großbürgerliche Milieu von Pünktchens Familie gehört sichtlich ins Deutschland der frühen 1930er Jahre. Doch dieser Zeitbezug bleibt so reduziert, dass auch jedes Kind problemlos den aktuellen Gehalt erkennt.
Dazu verhilft auch die Figur des Zeigefingers (Luzian Hirzel), die – wie sie selbst erklärt – keine Rolle im Stück spielt, aber immer wieder kommentierend eingreift und das Thema von der ungerechten sozialen Ungleichheit auf den Punkt bringt und anregt von einer gerechteren Welt nicht nur zu träumen.
Plastisch wird das soziale Gefälle an den beiden Kindern Pünktchen (Maria Lisa Huber) und Anton (Sebastian Schulze) herausgearbeitet. Die einfache aus drei halboffenen Holzhäusern bestehende und fahrbare Bühne von Jennifer Schleif lässt sich so problemlos bald in das geräumige Haus von Pünktchen, bald in die enge und ärmliche Küche von Anton verwandeln. Während es Pünktchen materiell an nichts mangelt, der Vater Direktor ist, die Mutter vor allem ans Shoppen denkt und sich Köchin und Kindermädchen ums Essen und das Mädchen kümmern, muss Anton abends auf den Straßen betteln und sich um die kranke Mutter kümmern.

Ernstes Thema spielerisch-leicht serviert

Deprimierend könnte das leicht wirken, doch durch die leichthändige Inszenierung, den fließenden Szenenwechsel, bei dem immer wieder im Hintergrund im Stil eines Schattenspiels in die Handlung integriert die Bühne umgebaut wird, und die von kräftigen Farben bestimmten Kostüme von Wicke Naujoks wirkt das nie niederschmetternd, sondern trotz des ernsten Hintergrunds immer luftig-leicht.
Ein Vergnügen ist es einfach zuzusehen, wie hier aus den beiden Wohnungen plötzlich ein Tanzlokal mit Discokugel wird, wie der von orangem Hintergrund bestimmte Tag mit Blautönen und einem gelb leuchtenden Mond in die Nacht übergeht, oder wie ein Bett zu einem Floß umgebaut wird, auf dem die beiden Freunde Pünktchen und Anton zu einer großen Reise aufbrechen.
Im Zentrum steht diese Freundschaft, die sich trotz der sozialen Ungleichheit entwickelt und zu der bald auch eine Kriminalgeschichte dazukommt. Schon beim ersten Auftreten erscheint der Bräutigam von Pünktchens Kindermädchen (Nico Raschner) nämlich als zwielichtige Figur und bald wird sich dieser Verdacht erhärten. Mindestens gleichviel Slapstick wie Spannung entwickelt sich aber, als dieser Gauner zur Tat schreitet.

Spielfreudiges Ensemble

Mit sichtlicher Spielfreude und Leidenschaft verkörpern nicht nur Maria-Lisa Huber und Sebastian Schulze die Titelfiguren, sondern hinreißend ist auch Vivienne Causemann als überkandidelte Mutter, Nico Raschner als geschäftiger Vater, der nie Zeit für Pünktchen hat, und herrlich fies als Gauner Robert. Bo-Phyllis Strube überzeugt als Kindermädchen, das hinter der Fassade ein Doppelleben führt, und souverän wechselt Luzian Hirzel zwischen kommentierendem Zeigefinger und der resoluten und sich als wehrhaft erweisenden Köchin Berta.
Weil hier von Schauspiel über Bühne bis zu Kostümen alles zusammenpasst, einzig der Musikeinsatz vielleicht etwas zu spärlich und zu wenig prägnant ausfällt, ergibt sich ein ausgesprochen runder Theaterabend oder Theaternachmittag, bei dem neben Spannung und Spaß auch die Botschaft nicht zu kurz kommt, die aber nie mit erhobenem Zeigefinger vorgetragen wird, sondern sich ganz selbstverständlich aus der Erzählung ergibt.


Tagblatt von Bettina Kugler

Mit einem Jahr Verspätung: Endlich kommt im Theater Bregenz «Pünktchen und Anton» auf die Bühne – und wird gleich wieder weggesperrt

Schon letztes Jahr stand das Familienstück «Pünktchen und Anton» nach dem Buch von Erich Kästner am Vorarlberger Landestheater Bregenz kurz vor der Premiere. Jetzt fand sie statt: am Samstag vor dem neuerlichen Lockdown in Österreich. Ein Trauerspiel, das tapfer auf ein Happy End hofft.

«Das Schicksal hat nach Mass gearbeitet», schreibt Erich Kästner im Nachwort zu seinem 1931 erschienenen Kinderroman «Pünktchen und Anton» – nicht unzufrieden mit sich selbst, hat er doch als Autor dem Schicksal auf die Sprünge geholfen. Das Gute hat gesiegt, der fiese Robert sitzt im Gefängnis, das Fräulein Andacht in der Tinte, die Kinder sitzen im Glück: Da reibt sich der Erzähler und bekennende Schulmeister Kästner die Hände, wohl wissend, dass es nicht immer so gerecht zugeht im Leben.

Auf der Bühne hält sich Regisseurin Catharina May in ihrer Fassung für das Vorarlberger Landestheater in Bregenz an Kästners Happy End. Da müssen die Fabrikantentochter Luise Pogge und der so anständige, gescheite Betteljunge Anton Gast nicht mehr spätabends auf der Berliner Prachtchaussee im Regen stehen und Streichhölzer oder Schnürsenkel feilbieten. Da wird Antons Mutter gesund und findet einen Job, der alle glücklich macht. Das falsche Kinderfräulein und ihr verbrecherischer Bräutigam bekommen ihre gerechte Strafe. Und Kinder ab sechs Jahren haben im Schnelldurchlauf eine so muntere wie spannende Lektion über Mitmenschlichkeit und Mut gelernt.

Ein neuer Anton – von heute auf morgen in die Rolle geschlüpft

 

Pünktchen (Maria Lisa Huber) und ihr neuer Anton (Sebastian Schulze): Der Anzug passt, die Rolle ebenfalls.

Die Wirklichkeit arbeitet leider wieder einmal nicht ganz so massgenau. Hier führt ein unberechenbares Virus Regie, schon eine ganze Weile. Erst fiel die Produktion der heftigen Coronawelle im letzten Herbst zum Opfer: Kurz vor der Premiere kam der Lockdown; das Weihnachtsmärchen wurde auf 2021 verschoben, in der Hoffnung, bis dahin habe man die Pandemie endgültig hinter sich.

Mit einem Tag krankheitsbedingter Verspätung kam nun die Premiere am Wochenende doch noch auf die Bühne: Sebastian Schulze ist dafür anstelle von David Kopp buchstäblich von heute auf morgen in die gelben Knickerbockerhosen (Kostüme: Wicke Naujoks) geschlüpft und spielt Kästners grundsympathischen Musterknaben, als sei er schon immer einer wie Anton gewesen. Chapeau!

Laut, fantasievoll, unverdrossen: Maria Lisa Huber als Pünktchen

Maria Lisa Huber als Pünktchen alias Luise Pogge macht es ihm leicht; mit ihrem ziemlich lauten kindlichen Charme und ihrer übersprudelnden Fantasie wird auch der Ernst des Lebens spielerisch, ein Abenteuer. Wer hätte nicht gern eine solche Freundin? Und einen so gutherzigen Freund wie Anton? Diese Botschaft (wenn man es denn so nennen will) leuchtet bonbonbunt aus den knapp gehaltenen Szenen hervor - noch stärker als Kästners Moral, seine «Nachdenkereien», die im Buch jedes Kapitel zusammenfassen.

 

Herr Zeigefinger (Luzian Hirzel) mischt sich ein.

Es geht in diesen Zwischenrufen nicht um Belehrung, eher darum, das Herz an seinen rechten Fleck zu rücken; mit Hilfe einer Geschichte, die Herz und Verstand gleichermassen anspricht. Bei Kindern, so war Kästner überzeugt, braucht es dazu nicht viel, sie seien «dem Guten noch nahe wie Stubennachbarn». Sacht anklopfen aber darf man schon; Das tut in der Bregenzer Produktion Herr Zeigefinger, ein Conférencier mit rotem Samthandschuh und Zylinder. Luzian Hirzel springt in dieser Rolle mehrfach aus der Geschichte und wendet sich an das Publikum - die Grossen sind da unbedingt mitgemeint.

Hirzel hat, wie viele heutzutage (und auch zu Kästners Zeiten), mehrere Jobs; er ist auch alter Herr, Kellner, Polizist, vor allem aber und mit Leib und Seele die dicke Berta: die patente, im besten Sinne schlagfertige Köchin im Hause Pogge. Zu Pünktchens Glück, denn ansonsten hat das Kind wenig Zuwendung. Der Vater (Nico Raschner) macht Geschäfte, Frau Pogge (Vivienne Causemann) Shoppingtouren; danach hat sie Migräne. Und einem Kinderfräulein wie der Andacht (Bo-Phyllis Strube) würden Eltern, die auch nur eine Minute lang genauer hinschauen, ihr Kind sicher nicht anvertrauen.

Die Moral kommt mit Schwung über die Rampe

 

Happy End im Kinderzimmer: Anton (hier David Kopp) und Pünktchen (Maria Lisa Huber) spielen «Im Faltboot über den Ozean».

Noch immer steckt genug Moral in der Geschichte; doch sie kommt fröhlich und mit Schwung über die Rampe, so schwungvoll, wie die Schauspielerinnen und Schauspieler die schlichten Hauselemente aus Holz (Bühne: Jennifer Schleif) drehen, auf- und zuklappen, in Grossstadtstrassen oder Wohnstuben verwandeln. Gefühlig wird es nie, da hält es die Regie und Ausstattung mit den bekannten Illustrationen Walter Triers in der Originalausgabe: knapp karikierend, mit Sympathie für jene, die sie verdient haben. Dazu muss man nach der Premiere unter unglücklichen Vorzeichen all jene zählen, die sie mitgetragen haben. Und die jetzt hoffen, dass der erneute Stubenarrest für die Kultur in drei Wochen vorbei ist.

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GEISTER SIND AUCH NUR MENSCHEN



Wilhelmshavener Zeitung von DÉSIRÉE WARNTJEN

"Geister sind auch nur Menschen" beeindruckt mit Gedanken über das Ende des Lebens.

 

Das Gefühl der mentalen Greifbarkeit dieser zu Sätzen geformten inneren Bilder ist schon beachtlich.

Dies ist der einfühlsamen und mit zahlreichen sich perfekt in das Geschehen einfügenden Details ausgestatteten Inszenierung der Gastregisseurin Catharina May ebenso zu verdanken wie den darstellerischen Leistungen und dem Text.

 

90 ununterbrochene Minuten währen die Gedankenmonologe und bilden vom Anfang bis Ende einen steten Fokus. Dazwischen stehen kurze Dialogsequenzen, Sprechchöre und -gesänge, die der Musikalische Leiter Matthias Grote mit einem ebenso großen Gespür für die wechselnden Stimmungen komponiert und dem Verlauf eingefügt hat, wie die atmosphärischen Klänge. Von oben rieselt es grau aus einer Sanduhr. (Bühnen- und Kostümbilderin: Jenny Schleif) Und während in der Mitte des Karussells und des Geschehens die Zeit sichtbar dahinfließt, lassen die drei Alten ihre Gedanken schweben, die gefüllt sind von der Auseinandersetzung mit ihrer aktuellen Situaition, von Erinnerungen, Refelktionen, Sehnsüchten. In ihren Gedanken können sie sich auch körperlich frei bewegen, und das tun sie, allesamt in ständiger Bühnenpräsenz: Chroreographisch fantsastisch gestaltet, nehmen sie unterschiedlichste Positionen ein, formieren die 26 verlassenen Plastikstühle immer wieder um, rennen durch ihre Gegenwart und ihre Vergangenheit. Perfekt ist die Besetzung mit einer herausragenden Franziska Kleinert, deren Gestik, Mimik und Stimme Brunners Sprache tiefen Ausdruck verleiht, mit einer fantastischen Sibylle Hellmann, und einem großartigen Thomas Marx. Auch Philip Buder ist weit mehr als nur der handreichende Pfleger, seine Gedanken sprechen von Fürsorge und Überforderung. Skurille und groteske Facetten des Alterns werden sichtbar, die fliegenden Gedankenbilder berühren.

Lang anhaltender Schlussapplaus. Die Inszenierung und das Intensive Spiel haben beeindruckt und wirken nach. Bravo der Regisseurin und den starken Darstellern.

 


Jeversches Wochenblatt von Juliane Minow


Da wird gezankt, diskutiert, Kot an die Wände geschmiert; voran kommt hier niemand. Doch gerade das ist es, was diesen Theaterabend so wertvoll macht, geht es doch genau darum, das zu zeigen.

 

Die choreographischen und chorischen Momente verleihen der Inszenierung Dynamik.

 

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CORIOLANUS


Theater der Zeit  12/2019    von Bodo Blitz

 

Das Vorarlberger Landestheater stellt die Demokratie ins Zentrum seiner Spielzeiteröffnung; Intendantin Stephanie Gräve verführt ihr Publikum zum politischen Dauerdiskurs: Zwei Römerdramen Shakespeares umrahmen eine Uraufführung. Bettina Erasmy hat einen dystopischen Monolog geschrieben. „Der ideale Staat in mir" entwirft eine Art „Matrix“-Welt. Differenzen? Gibt es nicht mehr. Was einmal Staat war, lässt sich inzwischen computergeneriert regeln. Es dominiert die Optimierungs-App oder es regiert die Cloud. Macht bleibt an Datenströme gekoppelt. David Kopp in der Rolle eines Influencers gestaltet so Welt. Dialog oder gar demokratische Formen der Kontrolle? Sind im aseptischen, klinisch weißen Bühnenraum nicht vorgesehen. Das ist weit weg von Shakespeares Fokus auf Macht und Öffentlichkeit. Und doch gibt es eine inhaltliche Klammer. Alle drei Werke des Mammutabends ,,Cold Songs: Rom" kreisen um das Thema der Beeinflussung von Massen. Sie stellen damit die Machtfrage, und das auf kritische Weise. 

 

In Catharina Mays „Coriolanus" und Johannes Leppers „Julius Caesar" bleibt die Bühne weitgehend leer. Sie ist in beiden Inszenierungen ein Herrschaftsraum für Egomanen. Wozu ein prächtiges Bühnenbild, wenn der Narzissmus von Cäsaren Ausstattung genug ist? Die Kargheit der ungeschminkten Kulisse ist jederzeit einsehbar. Kein Vorhang trennt den Zuschauerraum vom Proszenium. Erst wenn es darum geht, Entscheidungen zu legitimieren, die häufig anderweitig gefallen sind, treten die politischen Akteure an die Rampe und buhlen um Zustimmung. Bregenz dechiffriert ein theatrales Grundmoment von Politik. Partizipation wird gelenkt durch die Schauspielkunst der Darsteller, durch ihre Fähigkeit, das Publikum - also das Volk - rhetorisch zu beeindrucken. 

Shakespeares Coriolanus ist ein Aristokrat reinsten Wassers. Das Volk verachtet er. Seine Apotheose als unbezwingbarer Kriegsgott gerät in Catharina Mays Inszenierung vergleichsweise lang. Doch dann nimmt das Drama des Politischen rasant Fahrt auf. Nach gewonnener Schlacht gegen die Volsker eröffnet sich Coriolanus die Chance, Konsul zu werden. Im republikanischen Rom bedarf das der plebiszitären Zustimmung. Jürgen Sarkiss verkörpert mit jeder Faser die Abscheu des Kriegers, sich ausgerechnet von den Plebejern ermächtigen zu lassen. Doch der Glanz des Lorbeerkranzes verleitet ihn dazu, sich aufs politische Parkett zu begeben. Da steht er dann, an der Rampe, und blickt unruhig, auch diabolisch ins Publikum: „Ihre Stimme hab ich?" Ein Wolf im Schafspelz, der durch künstliche Pausen ergänzt, was er nicht denkt: „So dumm ist das Volk - niiiicht!" Sarkiss' Larvenspiel ist deshalb so grandios, weil er es versteht, Coriolanus' Verachtung gegen über dem Volk noch im Moment des Einschleimens jederzeit lesbar zu gestalten. Zum Berufspolitiker taugt er nicht. Dieser Typus wird in beiden Shakespeare-Inszenierungen negativ gezeichnet. Die Volkstribunen in Mays „Coriolanus" erscheinen schon vom Kostüm her als aufgeblasene Bürger. Es fällt ihnen leicht, gegen Coriolanus zu intrigieren. Um die Folgen ihrer Handlung kümmern sie sich nicht weiter. Den Staat rettet in Shakespeares Drama am Ende eine Frau, nämlich Coriolanus' Mutter. Zoe Hutmacher verfügt souverän über die ganze Palette politischer Beeinflussungsmechanismen. Ihrer emotionalen Erpressung unterwirft sich der Sohn. Er beendet seinen Rachefeldzug gegen das System 

 

 

 


KULTUR - Zeitschrift für Kultur und Gesellschaft

von Dagmar Ullmann-Bautz


Ein bemerkenswert konzentriertes Theaterereignis – „Cold Songs: Rom“ am Vorarlberger Landestheater.


Einen Theaterabend, der nicht nur wegen seiner Form außergewöhnlich war, sondern auch durch seinen Titel bzw. Untertitel „Cold Songs: Rom“ und „Hey Demokratie, bist du noch zu retten“ neugierig machte, gab es am vergangenen Samstag in Bregenz zu sehen und zu erleben.


Jürgen Sarkiss brillierte in der Figur des Coriolanus, spielte ihn energiegeladen, wütend, voller Tatendrang und Stolz, am Ende mit größter Verzweiflung - ein Superheld, der alle Schlachten gewinnt, jedoch an Politik und seinem eigenen Stolz scheitert. Großen Applaus verdienten sich auch alle weiteren SchauspielerInnen, die nur zu viert sämtliche 20 Figuren dieses großen Shakespeare-Stückes verkörperten und ihnen Gestalt und Charakter verliehen, Vivienne Causemann mit berührender Intensität und viel Humor, Zoe Hutmacher durch große Strahlkraft und Ausdruck, Grégoire Gros mit hoher Sensibilität und Nico Raschner mit Präsenz und Klarheit.


Regisseurin Catharina May hat eine umwerfend kluge Arbeit abgeliefert, sie hat sehr genau gekürzt, hat die Psychologie der einzelnen Figuren nicht nur präzise herausgearbeitet, sondern sie auch mit ihrem jeweiligen Outfit - großartig von Wicke Naujoks entworfen und umgesetzt - perfekt unterstützt. Livemusiker Matthias Grote, der auf der Bühne kommentierend und Emotionen fördernd seine Gitarre, seinen Synthesizer, seine Percussions sprechen lässt, ist ein Riesengewinn für die Produktion.



Der Standard  von Julia Nemitz


Eine Woche vor der Nationalratswahl startet das Vorarlberger Landestheater Bregenz mit einer Art Demokratiestudie in die

neue Spielzeit. Cold Songs: Rom ist Bereicherung und

Überforderung zugleich.

 



Konenzeitung von Anna Mika

 

Im Kornmarkttheater erlebt man das stark gekürzte Drama von Shakespeare in der dichten Inszenierung von Catharina May, toll gespielt unter andrem von Jürgen Sarkiss oder Zoe Hutmacher. Eindrucksvoll die Kostüme und Masken von Wicke Naujoks und die Live-Musik von Matthias Grote.

 

 

 

Neue Vorarlberger Tageszeitung von Lisa Kamann

 

Geglücktes Riesenprojekt zum Auftakt

Das Konzept von "Cold Songs: Rom" funktioniert. Ein kurzweiliger, vielseitiger Abend, der Spaß macht.

 

Überraschend kurzweilig ist dieser über vierstündige Abend, der wie ein Fest das Theater - und auch ein wenig das Haus selbst - feiert. Im Ganzen macht dieses Projekt als Zuschauer richtig Spaß, es liefert viele verschiedene Eindrücke und unterhält, ohne zu überfordern

oder zu ermüden.

 

Catharina May bringt das erste Römerdrama auf die Bühne, schöpft dabei gekonnt aus der Geschichte und setzt die Figuren ins Zentrum. An die commedia dell arte erinnernde Masken verzieren jene Darsteller, die, mehrfach besetzt, die Rollen der Volkstribunen übernehmen.

 

 

ORF.AT

Im Stück „Coriolanus“ überzeugt Jürgen Sarkiss in der Titelrolle mit wuchtiger Intensität, in einer rundum gelungen Inszenierung von Catharina May, einer gedanklich klar konturierten Arbeit voller magischer Bilder und musikalischer Intensität.

 

 


 

 

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DINGE DIE ICH SICHER WEISS

 

Cellesche Zeitung von Jürgen Poestges

 

"Dinge, die ich sicher weiß“ ist ein vielschichtiges Familienporträt mit vielen Wendungen.


Regisseurin Catharina May hat es dabei hervorragend verstanden, das Stück nicht in Kitsch abdriften zu lassen. Sie verlässt den schmalen Grad zwischen Komik und Tragik nie.


Die Schauspieler schaffen es allesamt, ihren Rollen Tiefe zu verleihen, ohne unglaubwürdig zu werden.


Die Inszenierung ist in sich schlüssig und stimmig. Bei aller nötigen dramaturgischen Überzogenheit erkennt jeder von uns einen Teil seines Lebens wieder. Nicht nur einmal war am Ende aus den Reihen des begeisterten Publikums zu hören: „So ist das bei uns auch.“


Auch deshalb gab es langanhaltenden Applaus.


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FRÜHLINGS ERWACHEN



nachtkritik, 4. August 2018


Erster Sex in der Natur

Frühlings Erwachen – Catharina May inszeniert im Rahmen des Festivals 'Theaternatur' Frank Wedekind und entlockt dem alten Stoff zeitlose Fragen


Elend und Sorge sind nicht weit. Ein paar Kilometer nur liegen diese beiden Oberharzer Ortschaften von Benneckenstein entfernt, wo Catharina May im Rahmen des Festivals "Theaternatur" Frank Wedekinds Pubertäts-Tragödie "Frühlings Erwachen" inszeniert. Elend und Sorge herrschen auch auf der Freilichtbühne von Benneckenstein, wo das Festival nun schon im vierten Jahr stattfindet, nachdem die Waldbühne gute 20 Jahre nicht bespielt worden ist. Es sind die Sorge der Erwachsenen und das Elend der Pubertät, die auf der Bühne gezeigt werden. Denn es sind die Erwachsenen, die bei Wedekind ihre pubertierenden Kinder vor allem bewahren wollen – am meisten vor ihrer erwachenden Sexualität. Und zwar am besten so, dass die Kinder gar nichts erfahren.


Die Kinder bringt der Storch, und überhaupt: "Um ein Kind zu bekommen, musst du einen Mann lieben, wie du noch gar nicht lieben kannst", bekommt die 14jährige Wendla zur Antwort, als sie ihre Eltern fragt, wie das überhaupt geht mit den Kindern. Die Jungs derweil tauschen sich über die Details aus, Melchior weiß Bescheid und erklärt es seinem seinem Kumpel Moritz, und zwar ausführlich und in einem selbst geschriebenen und illustrierten Dokument. Moritz plagen daraufhin Schuldgefühle, weil er immer nur an das eine denkt – "Wenn ich ein schönes Mädchen sehe, sehe ich es ohne Kopf" – und erschießt sich schließlich aufgrund dieser Schuldgefühle und schulischen Drucks.


Melchior bekommt wegen seines Sexualerziehungsdokumentes die Schuld an Moritz’ Selbstmord zugeschoben – so etwas reiche schließlich, um einen jungen Geist zu verwirren – und muss in die "Korrektionsanstalt". Zuvor schwängert er versehentlich Wendla, die dann bei der Abtreibung umkommt, die ihre Mutter vornehmen lässt. Kurz gesagt: In "Frühlings Erwachen" findet kaum einer der Pubertierenden das Glück, weder in der Liebe noch in der Sexualität.


Ein verstaubter Stoff


Wedekinds Stücktext von 1891 krisitiert die von sexuellen Tabus geprägte Erziehungsmethoden seiner Zeit. Darin, und in seiner sperrigen Sprache, wirkt der Text durchaus veraltet – man mag sich heutzutage streiten, wann und wie genau Schulkinder etwas über nicht heteronormative Sexualitäten und Beziehungsmodelle lernen sollen. Es mag auch sein, dass auch heutzutage die Sexualerziehung das ein oder andere Defizit aufweist oder von dem ein oder anderen Tabu geprägt ist. Dass Kinder, gerade auch Pubertierende, nicht ausreichend aufgeklärt würden, darüber dürfte in Zeiten frei verfügbarer Informationen im Netz und Sexualkundeunterricht in der Grundschule wohl kaum mehr zu reden sein.


Catharina Mays Inszenierung von "Frühlings Erwachen" versucht dem leicht angegrauten Stück ein wenig Zeitgenossenschaft zu verleihen. Die Bühne: Minimalistisch und schwarz glänzend, im Hintergrund ein Paravent aus LED-Bildschirmen, über die impressionistisch anmutende Bilder flackern. Hin und wieder rupfen dazu elektronische Beats und Harmonien die Sprache auseinander. Die Eltern werden als gesichtslosen Wesen dargestellt, die im Chor sprechen und sich immer wiederholende Choreographien von Alltagsverrichtungen wie Nähen oder Tee kochen abarbeiten während sie ihre Kinder vor den Kopf stoßen. Die Gruppe aus Pubertierenden wiederum irrt auf sich allein gestellt durch den katastropischen Horror der erwachenden Sexualität.


Landflucht und Fehlkommunikation


Damit nähert sich der Stücktext thematisch an das Motto des diesjährigen "Theaternatur"-Festivals "Fremde neue Welt" an. Schwerpunktmäßig soll es da auch um die Landflucht der Jungen und damit eingehende Überalterung der Region gehen, die sich gerade in den ländlichen Gegenden des Harzes zu einem Problem entwickelt hat. In der Eröffnungsinszenierung des Festivals, Shakespeares "Sturm", deutet der künstlerische Leiter Janek Liebetruth – der in Benneckenstein aufgewachsen ist – Prosperos Exil als Vereinsamung im Alter. Mit "Frühlings Erwachen" liefert Catharina May das Gegenstück dazu: Es sind die Jungen, die einsam sind und von den Alten nicht verstanden werden. Im Kern geht es in Mays Inszenierung weniger um Sexualerziehung und Aufklärung als vielmehr um einen Generationenkonflikt, in dem Fehlkommunikation zwischen der Elterngeneration und ihren Kindern herrscht. Und Elend und Sorge folgen.


Die Inszenierung umschifft so angestaubten Text, indem sie ihn als beispielhaft für diese Fehlkommunikation behauptet. Das Ensemble wiederum gibt die Figuren mit Spaß am Überdrehten gar nicht so sehr als Individuen, sondern als schemenhafte Schablonen Pubertierender mit all ihrem Triebdruck und dem hormongespeisten Hang zu Dramatik. So entsteht auf der Bühne im Kiefernwald tatsächlich ein Abend, der aus Wedekinds Vorlage einen beispielhaften Konflikt hervorkitzeln kann. Nämlich den zwischen Eltern, die in starren, selbstähnlichen gesellschaftlichen Systemen gefangen sind und nichts anderes mehr verstehen und Jugendlichen, die mit diesen Systemen nichts anfangen können, sie noch nicht einmal nachvollziehen, und ihr Heil in der Flucht suchen. Koste es, was es wolle.

von Jan Fischer


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DIE RATTEN


nachtkritik, 16. März 2018


Das Wanken des inneren Eigenheims

Die Ratten – Mit pointierter Figurenzeichnung und Gespür fürs Klassenbewusstsein im Sprechtext inszeniert Catharina May in Celle Hauptmanns Klassiker


Ich vermute, Sie kennen das: Ziemlich bald an einem Theaterabend setzt sich ein Gedanke in ihrem Kopf fest, ein Name, ein Wort. Und Sie werden das dann nicht mehr los. Oder den. An diesem Abend lautete das Passwort: Tennessee Williams. So wie Dirk Böther in diesen Hauptmannschen "Ratten" den Maurerpolier John spielt, hochaufgeschossen im gestreiften Hemd, Pomade im dunklen Haar, den Rücken übergerade, als würde er hier, daheim, im Berliner Mietshauskörper, die monatelangen Buckelstunden der Arbeit auf Montage in Altona von sich weghalten wollen, schaut er aus wie geborgt von Tennessee Williams. Nicht nur wegen des gestreiften Hemds, der Frisur und der sauberen Heimgehhose. Jut wie Blut, mit ziemlich robustem gesundem Menschenverstand, mit feuchten Augen, wenn sein inneres Eigenheim ins Wanken gerät, für das er so viel schuftet.


Figuren von ganz woanders her


Regisseurin Catharina May setzt bei ihren "Ratten" auf pointierte Figurenzeichnung, um etwas herauszuholen aus dem alten Hauptmann. Umschifft so geschickt das eingleisige dramatische Diskutieren von (Möglichkeit 1) Naturalismus und (Möglichkeit 2) Hartz IV. Beides ist irgendwie drin in diesen konzentrierten wie kurzweiligen zweieinhalb Stunden. Aber nur in der Halbdistanz. Diese Perspektive auf das Sozialdrama mit reichlich Jahren auf dem Buckel tut dem Text gut. Und auch dem Gesamtbild.


Der Clou dabei ist, dass May das Personal jeweils in sich geschlossen präsentiert – aber so, dass ein ziemlich disparates Gesamtbild entsteht. Denn alle Figuren scheinen ganz woanders herzukommen. Ohne wiederum direkt herbei-zitiert worden zu sein in dieses Berliner Hauptmann-Mietshaus. Polier John, wie gesagt, trägt ungefähre Williams-Züge, auf Gesicht und Seele seines Schwagers Bruno, der schließlich zum Mörder wird, lastet ein leiser Joker-Schatten (Ledger, Batman). Johanna Marx‘ Poliersgattin Henriette John hat mit den Grüntönen ihres Hosenanzugs auch ein wenig Almodóvar angezogen, derweil das überstürzt schwangere Dienstmädchen Pauline in Natascha Heimes Version etwas von der Überspanntheit gegenwärtiger Youtuberinnen atmet. In einem bemerkenswerten Kurzauftritt einmal trunken an der Wand lang verwandelt Niklas Hugendick die familiär komplett überforderte, sozial selbst hier unten ziemlich aussortierte Nachbarsfrau Knubbe in etwas unvermutet Gena-Rowlands-haftes. Und so weiter und so fort.


Soziale Verwerfungen, boulevardesk gewendet


Gerade weil sie nicht alle Berlin um Neunzehnhundert sind, scheint es, können sie heute im Hauptmann auftauchen. Können die Handlung voran peitschen, die immer abstrusere Volten schlägt. Frau John entlastet Pauline um die Kindsfürsorge, nimmt deren ungewollten Sohn an (um das frühverstorbene eigene Albertchen zu ersetzen). Damit der Gattenpolier nichts merkt vom Tausch, muss Pauline fort. Final fort schließlich, was Henriettes zwielichtig-aufgeschmissener Bruder Bruno besorgt. Parallel bastelt der vom Glück verlassene Theaterdirektor Hassenreuter am Zurückerlangen abhanden gekommener Grandezza – und versucht gleichzeitig, sein Theater gegen Neuerungen abzudichten. Blöderweise (für ihn), aber auch gut (fürs Stück) symbolisiert der Theologiestudent-wird-engagierter-Schauspieler Spitta alles Neue: theatertheoretisch, sozial und auch familiär. Will er doch Hassenreuters Tochter Walburga nicht nur als Hauslehrer seinen Schützling nennen. Wie Irene Benedict und Christoph Schulenberger dieser boulevardesk immer wieder aufgeschobenen amourösen Angelegenheit zugleich Schüchternheit und Zukunftskraft einimpfen, indem sie ihre Körperbewegungen langsam von ungelenker Eckigkeit in etwas Rundes, Fließendes überführen, gehört zu den Höhepunkten des Abends.


Gewiss hätte Mays Blick auf ihre Ratten mutigere choreographische Konsequenz vertragen, mehr Selbstvertrauen im Sinne des abstrakteren Spiels. Doch auch so gelingt ein ansprechendes Gebilde, das Berlin um Neunzehnthundert mit seinen sozialen Verwerfungen (und mit seinen Erzählproblemen: wer spricht hier überhaupt über wen?) bis in die Gegenwart verlängern kann. Das liegt am Ensemble, das seiner Regisseurin folgt. Das liegt vor allem aber an Jenny Schleifs eindrucksvollem Mietshauskörper. Sie hat einen nach hinten sich leise verjüngenden horizontalen Holztrichter gebaut, in dem alles stattfindet. Dies Gebilde schluckt Figuren, speit sie wieder aus, bedient (eingelassene Türen) screwballartiges Tempo ebenso wie (schlaue Lichtschlitze) hochkonzentrierte leise Miniatur. Lässt Licht und Leute durch Schächte herein – kurz: wird zu einem weiteren, bisweilen böse atmenden Akteur. Und bildet so gewissermaßen die Startrampe für das vielleicht größte Plus des Abends. Das ist nämlich gar nicht die Frage des Klassenbewusstseins. Sondern die Frage, wie sich Klassenbewusstsein in Sprechtext ausdrückt. Hier gelingt es May, Hauptmanns vollkunstsprachliches Geflecht aus (scheinbarem oder doch zumindest schwerst bearbeitetem) Berliner Jargon zu lesen als hätte sie es, sprachlich, mindestens mit der Entfernung zu Hebbels "Nibelungen" zu tun. Da beginnt ein eigenartiger Text tatsächlich zu leuchten manchmal. Und das ist ziemlich überraschend.


von Tim Schomacker



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KRANKHEIT DER JUGEND


***eingeladen zur Woche junger Schauspieler 2017 in Bensheim***


kulturradio, 6. Januar 2017


Krankheit der Jugend


Ferdinand Bruckners Schauspiel spielt 1923 in Wien und nur in einem einzigen Zimmer. Darin gehen die Gefühle von Studenten kreuz und quer, die nicht wissen, wohin mit ihrem Leben, Lieben und Handeln. Sie quälen sich selbst und gegenseitig, sie erniedrigen sich und kommen dennoch nicht voneinander los.

Der Möchtegern-Schriftsteller, den sie bezeichnenderweise Bubi nennen, verlässt seine Geliebte Marie und wendet sich einer anderen zu, die keusch, tüchtig und raffiniert ist. Marie ihrerseits geht eine lesbische Bindung ein mit Desiree, die lustigerweise verkürzt Desie genannt wird und den merkenswerten Satz spricht: "Ich liebe das Bett".

Desire sucht irgendwie den Ausbruch, findet ihn aber nicht und schluckt schließlich Veronal. Die Pillen hat ihr der ewige Student Freder besorgt, der in diesem Kreis eine besondere Faszination verströmt. Als wäre es nur ein Experiment, schickt er das Zimmermädchen Lucy auf den Strich. Entweder verbürgerlichen oder Selbstmord begehen, das ist die Alternative.

Der besondere Witz


Das Stück, als es 1926 in Hamburg uraufgeführt wurde, war ein Knaller. Es machte den Autor auf Anhieb berühmt. Der besondere Witz war, dass sich hinter dem Pseudonym Ferdinand Bruckner der Direktor des Berliner Renaissance-Theaters verbarg, Theodor Tagger. Der hatte sein eigenes Stück, als es ihm dort angeboten wurde, abgelehnt.

Das war die wunderbare Zeit, als noch reiche Leute ihren Freunden ein Theater, und dann auch noch ein so schönes, einrichteten. Tagger hatte bis dahin als expressionistischer Autor nur mäßigen Erfolg gehabt, dann schwenkte er stilistisch um.


An der Grenze zur Farce

"Krankheit der Jugend" ist, seit es Peer Raben 1973 am Bremer Theater reanimiert hat, immer wieder neu entdeckt worden. In den Siebzigern ließ sich aufschlussreich im jüngeren Seelennebel stochern. Die Verzweiflung der Neuen Sachlichkeit hatte damals noch etwas von einer sich in Gefühlsdingen verdiskutierenden Generation, die ihren Freud gelesen und – 1968 – intensiv durchlebt hatte.

Später fragte man sich, was unterscheidet den Schmerz, der in den Zwanzigern durch die Adern der Sensiblen raste, vom Leiden und Leidenwollen der Nullbock- und No-Future-Generation?

Die jetzige Inszenierung der jungen Regisseurin Catharina May hat nicht den Finger an einem genau datierbaren Zeitgefühl. Sie betrachtet diese jungen Menschen nicht, wie andere Regisseure das taten, wie in einem Laborversuch.

Sie blickt auf sie eher mit einem lachenden als einem weinenden Auge.

Die Aufführung im Pavillon des Berliner Ensembles, Veronal hin oder her, geht immer wieder amüsant an die Grenze zur Farce, und darüber hinaus.

Darstellerisch ein Vergnügen


Diese Inszenierung auf der kleinsten Spielstätte des Berliner Ensembles ist vor allem darstellerisch ein Vergnügen. Alle sieben Darsteller, drei Männer, vier Frauen, stürzen sich mit Lust an grotesker Körperlichkeit ausdrucksstark in ihre Rollen und die witzig aphoristische Sprache.

Anders als der Autor, zwingt die Regisseurin ihre Spieler nicht ins Typenhafte. Das latent Böse ist ihr eher fremd. Angeblich soll die Rolle des alle dominierenden Freder Vorbild für den Kowalski in "Endstation Sehnsucht" gewesen sein. Tennessee Williams lernte Bruckners Stück in Amerika kennen. Sven Scheele, jetzt, ist mehr ein jungen- als ein machohafter und krimineller Charakter oder blutsaugendes Raubtier.

Felix Strobel legt überaus komisch einen hochnervösen und fahrigen Jüngling hin, der ein toller Kerl sein will, aber nicht mal mit dem Korkenzieher und den eigenen Beinen zurechtkommt. Celina Rongen ist in dieser Gefühlssturmflut als Marie im Dauereinsatz, wenn es sein muss, ringkämpfend, eifersüchtig schwankend zwischen dem anderen und dem eigenen Geschlecht.

Bruckner hat seinem Schauspiel zwei Schlüsse geschrieben. Die Regisseurin gönnt ihm und der Darstellerin der Marie einen weiteren. Die steigt nämlich am Ende kurzerhand in einen Kühlschrank. Auch dieser Fridge ist bezeichnenderweise ein Modell, nicht ganz von gestern, aber auch nicht von heute.

von Hans Peter Göpfert


Berliner Zeitung, 7. Januar 2017


Verzweiflung in der Blubberblase   von Ulrich Seidler


Einen Raum ohne Ecken hat die Ausstatterin Maria-Elena Amos für die Studenten gebaut, die unter der "Krankheit der Jugend" leiden. Eine warmfarbige, ausgepolsterte Rückzugsblase mit einem Gründerzeitsofa, einem Sixties-Sessel, ein paar Luftballons und einem so symbolträchtigen wie praktischen Smeg-Kühlschrank: schön rund und in kräftigem Orange. Das Ding kann alles; seine Alkoholika-Vorräte sind trotz permanenten Zuspruchs unerschöpflich; er bietet auch gleich die passenden, stets gespülten Gläser; darüber hinaus fungiert er als Lichtquelle und als Musicbox, der Pop-Loops entblubbern, schließlich sogar als Fluchtweg in die Kälte der echten Welt.


Im kleinen, eng bestuhlten Pavillon des Berliner Ensembles gibt es in der Regie von Catharina May, Assistentin am BE, eine sehr direkte, eindeutige, druckvolle bis dampfige Interpretation von Ferdinand Bruckners 1926 uraufgeführtem Schlechte-Sitten-Stück. Sechs Bürgerkinder nebst Dienstmädchen agieren ihre sexualneurotischen Machtspiele miteinander aus. Das Ehemodell scheint in dem moralischen Einerlei der Nachkriegssinnlosigkeit der Gipfel der Langeweile. Andererseits sind die Kränkungen durch Zurückweisung und die Verletzungen durch Zudringlichkeit, die die sexuellen Befreiungs- und Selbstverwirklichungsversuche mit sich bringen, auch enervierend, schon wegen ihrer Unübersichtlichkeit. Die eigentlich anfangs noch ganz lebensbejahende Marie (Celina Rongen) wurde von dem auf sehr unangemessene Weise von sich selbst überzeugten Jungdichter Petrell (Felix Strobel) wegen der hübschen, aber kalten Irene (Marina Senckel) verlassen. Gleich drei gierige Tröster sind zur Stelle: die nach glamourösem Verderben strebende Desiree (Larissa Fuchs), der erwachsen tuende Alt (Felix Tittel) und der zerstörerische Herzensbrecher Freder (Sven Scheele), der in einem Nebenhumanexperiment das leidlich unschuldige Dienstmädchen Lucy (Karla Sengteller) für sich entfacht und auf den Strich schickt.


Die irgendwie unnötigen Nöte, in die sich die Jugend hier manövriert, werden mit mutigem Wutanfall-, Lüsternheits- und Verzweiflungsrealismus ausgespielt. (...)Manchmal aber - diese Momente gehören den Frauen - erwischt man sich doch: Dann meldet sich die längst überwunden geglaubte jugendliche Verzweiflung an der Sinnlosigkeit der Welt. Menno.



Das Kulturblog, 7. Januar 2017

Krankheit der Jugend

von Konrad Kögler


Bürgerlich zu werden oder Selbstmord zu begehen – zwischen diesen Alternativen schwanken die Figuren in „Krankheit der Jugend“.


Bürgertum oder Suizid – diese beiden Scheinalternativen muten aus heutiger Sicht sehr befremdlich an. Die Generation  der Digital Natives ist davon geprägt, dass ihr so viele Optionen und Lebensmodelle offen stehen wie kaum einer ihrer Vorgänger.


Theodor Tagger, damals Direktor des Berliner Renaissance-Theaters, traf jedoch einen Nerv seiner Zeit, als er unter dem Pseudonym Ferdinand Bruckner im Jahr 1926 von den Gefühls-Verwirrungen der Jugend zwischen den beiden Weltkriegen erzählte.


Am zeitgenössischsten wirkt die Figur des Freder: ein Langzeitstudent, der seine Mitmenschen um den Finger wickelt. Er wechselt ständig seine Sexpartnerinnen und manipuliert das etwas naive Zimmermädchen Lucy (eindrucksvoll-verträumt: Karla Sengteller), bis sie für ihn auf den Strich geht.


Es ist ein Höhepunkt dieser Inszenierung, wie sich Sven Scheeles Freder breitbeinig auf dem Sofa fläzt, sich den Raum nimmt und die weniger selbstbewussten Figuren, die noch nach ihrem Platz im Leben suchen, vorführt. Claus Peymann bewies mit dieser Neuverpflichtung für das Berliner Ensemble, dass er einen wachen Blick für vielversprechende Talente hat.


Ein zweites Kraftzentrum von Catharina Mays „Krankheit der Jugend“-Inszenierung im Pavillon des Berliner Ensembles ist Celina Rongen als Medizinstudentin Marie. Ihr Leben gerät völlig aus der Bahn: erst spannt ihr die Kommilitonin Irene (Marina Senckel) den Mann aus und angelt sich den zappelig-linkischen Möchtegern-Dichter Herrn „Bubi“ Petrell (Felix Strobel), dann scheitert auch noch ihre lesbische, die damaligen Zeitgenossen schockierende Affäre mit ihrer Mitbewohnerin Desiree (Larissa Fuchs).


Catharina May inszeniert ihre zweite Regie-Arbeit am Berliner Ensemble mit genau gezeichneten Figuren und lässt sich für das Ende eine dritte Variante statt der beiden von Bruckner alias Tagger überlieferten Fassungen einfallen. Das Publikum ist diesmal nicht so hautnah am Geschehen wie bei Mays Debüt, als sie Fassbinders Giftmord-Serie „Bremer Freiheit“ auf einem engen Steg mitten im Publikum platzierte. (...)



Frankfurter Allgemeine Zeitung, 7. Januar 2017

So alt sehen heute frühreife Bürger aus

von Simon Strauss


Was schlimm ist: jung sein und nicht wissen, wohin. Von Selbstzweifeln gequält werden, von Zukunftsangst in Verzweiflung getrieben, der Planlosigkeit hilflos ausgeliefert sein. Am fehlenden Willen leiden. Was aber noch schlimmer ist: jung sein und nichts als Absichten haben. Genau wissen, was man will, wer man ist, wozu man lebt. Immer schon fest im Sattel sitzen und alles unter Kontrolle haben. Kaum laufen können und schon eine Lebensversicherung abschließen, noch nie geküsst, aber schon den Kitaplatz bestellt. Jung sein, nur um erwachsen zu werden – gibt es ein furchtbareres Schicksal?


Ferdinand Bruckners Initiationsdrama „Krankheit der Jugend“ spielt im Wiener Studentenmilieu der frühen zwanziger Jahre: Ein paar „sehr junge“ Mädchen und „etwas ältere“ Jungen treiben sich aus Langeweile gegenseitig in den Wahnsinn, betrügen einander und betteln danach um Hilfe. Sie leben einsam vor sich hin und fühlen sich durch die Begegnung mit den anderen nur noch leerer. Egal wie nah sie sich körperlich kommen – ihre Seelen bleiben einander fremd. Ihr Dasein ist ohne Reiz und Sinn, allein der mögliche Freitod dient ihnen als Stimulus, erregt sie noch. „Entweder man verbürgerlicht, oder man begeht Selbstmord. Einen anderen Ausweg gibt es nicht“, sagt Desiree, die lesbische Medizinstudentin, die später als einzige tatsächlich aus dem Ewigen Totentanz ausbrechen wird.(...)

Eine Jugend, die ihren Platz nicht findet, schwebt also in der Tat „in latenter Lebensgefahr“, wie die böse Irene süffisant feststellt. (...)


Märkische Oderzeitung, 9. Januar 2017

Von Ver­füh­rung und Ver­zweif­lung

von Inga Dreyer


Ber­lin So viel scheint sich nicht ge­tan zu ha­ben mit der Ju­gend in den ver­gan­ge­nen 90 Jah­ren. Im­mer noch krei­sen ih­re Ge­dan­ken zwi­schen Prü­fun­gen für die Uni, Lie­be, Al­ko­hol, Par­ty, Ver­füh­rung, Ver­zweif­lung und der Fra­ge nach dem rich­ti­gen Le­ben.

Nur ein Zim­mer­mäd­chen leis­ten sich Stu­den­tin­nen heu­te eher sel­ten – und vi­el­leicht wür­den sie ih­rem Ge­lieb­ten auch kei­nen Ro­ko­koschreib­tisch schen­ken. Das Stück „Krank­heit der Ju­gend“von Fer­di­nand Bruck­ner, 1926 ur­auf­ge­führt, fei­er­te am Don­ners­tag im Pa­vil­lon des Ber­li­ner En­sem­bles Pre­mie­re. Gro­ßes Dra­ma im schlich­ten Büh­nen­bild ei­ner Stu­den­ten­bu­de mit Kühl­schrank und So­fa. Ma­rie (Ce­li­na Ron­gen) drückt ih­re Lie­be zu Pet­rell (Fe­lix Stro­bel), den sie „Bu­bi“nennt, in hin­ge­bungs­vol­ler Müt­ter­lich­keit aus, aus der er in die Ar­me von Ire­ne (Ma­ri­na Senckel) flüch­tet. De­si­ree (La­ris­sa Fuchs), ge­ra­de noch im Prü­fungs­stress, bie­tet sich an, die hys­te­ri­sche Ma­rie mit ro­man­ti­scher Lie­be zu trös­ten.

Zwi­schen­durch taucht im­mer wie­der der eben­so selbst­ver­lieb­te wie an­ge­sof­fe­ne Fre­der (Sven Schee­le) auf, um die Frau­en der Rei­he nach zu pro­bie­ren. „Da wir uns seit drei Ta­gen du­zen, ist die Hei­rat nur noch Form­sa­che“, sagt er zu Ma­rie.


Der Text von Bruck­ner er­scheint ei­gen­tüm­lich zeit­ge­mäß, gleich­zei­tig poe­tisch, wit­zig und fa­ta­lis­tisch – wie es sich für die Ju­gend ge­hört. „Al­le Men­schen soll­ten sich mit 17 er­schie­ßen. Da­nach gibt es nur noch Ent­täu­schun­gen“, sagt De­si­ree, von La­ris­sa Fuchs mit wun­der­bar ero­tisch an­ge­hauch­ter Ab­ge­klärt­heit ge­spielt. Sät­ze vol­ler In­brunst und Schär­fe flie­gen durch den Raum.

Da­bei ent­ste­hen span­nen­de Sze­nen – et­wa, wenn De­si­ree über­legt, dem Zim­mer­mäd­chen Lu­cy (Kar­la Seng­tel­ler) auf die Stra­ße zu fol­gen und sich den Män­nern an­zu­bie­ten. In die­sen Mo­men­ten ent­wi­ckelt die Ins­ze­nie­rung von Cat­ha­ri­na May ei­ne In­ten­si­tät, die Lust und Schmerz ver­mit­telt. (...)

Vol­ler gu­ter Ide­en ist das mit Slap­stick-ein­la­gen ge­spick­te Spiel von Fe­lix Stro­bel als Pet­rell.(...)Ce­li­na Ron­gen als Ma­rie spielt sich im­mer mehr in Ra­ge, vol­ler Ver­zweif­lung und Lie­bes­kum­mer wälzt sie sich mit Ire­ne am Bo­den.(...)


Neues Deutschland, 13. Januar 2017

Der Exzess weist den Weg in den Abgrund

von Christian Baron


Bürgerlich werden oder sterben: Das Berliner Ensemble zeigt Ferdinand Bruckners »Krankheit der Jugend«

Alle glücklichen Generationen gleichen einander, jede unglückliche Generation ist auf ihre eigene Weise unglücklich. Die heutige mitteleuropäische Jugend ist eindeutig: unglücklich. Das muss sie ja auch sein, denn sonst gälte sie als künstlerisch belanglos. Auch würde Ferdinand Bruckners 1926 uraufgeführtes Stück »Krankheit der Jugend« dann nicht, wie derzeit im Pavillon des Berliner Ensembles, neu gespielt.(...)


Damals löste das Werk wegen demonstrativ ausgestellter sexueller Ausschweifung und aufgrund eines als sympathisch dargebotenen Weltfluchtankers namens Drogenkonsum einen Skandal aus. Heute gilt es als moderner Klassiker. Was sollte man da noch herausquetschen? Welche Verbindung kann ein 90 Jahre alter Schrieb über gelangweilte Wohlstandskids mit der voll vernetzten, maximal reizüberfluteten und sich lustvoll selbst ausbeutenden »Generation Y« unserer Tage haben?


Ambitionierte Fragen, denen sich die junge Regisseurin Catharina May mit ihrer Neuauflage zwangsläufig stellt. (...)

Gegenüber einem grellgelben Retrokühlschrank fläzt sich Marie (Celina Rongen) auf einem Ledersofa und lackiert sich die Fußnägel. Als Desiree (Larissa Fuchs) den Raum betritt, sprühen die antipathischen Funken bis in die letzte Zuschauerreihe, noch bevor auch nur ein Wort gewechselt ist. (...) Langzeitstudent Freder (Sven Scheele) bringt den die Damenwelt betörenden Playboy durch sein wohl bei Großstadthipstern abgeschautes Pseudoproletentum in unsere Zeit. Marina Senckel (Irene) spielt einen auch heute oft kennenlernbaren Frauentypus, der die Angst vor der Unzulänglichkeit in der noch immer männerdominierten Welt hinter sozialer Distanzsucht versteckt. Und Felix Strobel entstellt seinen Möchtegerndichter Petrell (den alle nur »Bubi« nennen) zu einer Karikatur des absichtsvoll Schusseligen, wie er einem auch dieser Tage über den Weg läuft.(...)

Klar, in dem durchschaubaren Sextrophäensammeln von Freder scheint dieser zum Naturprinzip erhobene Wettbewerbscharakter des Alltags auf, der 1926 in den saturierten Schichten nicht so stark ausgeprägt gewesen sein dürfte wie jetzt. (...) »Verbürgerlichen oder Selbstmord begehen«, raunt Freder seinen Gespielinnen mehrmals entgegen. Ja, das ist auch heute noch vielen Scheinrebellen aus gutem Hause die große Scheinalternative. (...)



pagewizz, 6. Januar 2017

"Krankheit der Jugend"

von Stefan Kassel


Die Regisseurin Catharina May inszeniert ein Verausgabungstheater. Junge Medizinstudenten in einem Studentenwohnheim pendeln zwischen Hysterie, Zynismus und Selbstmitleid.


Fast alle haben sie einen Hang zum Abgründigen und Morbiden. Exemplarisch ist dieser siebenköpfige Wiener Haufen bestimmt nicht. Grenzgänger der Gefühle, stehen die sieben zwar mitten im Uni-Betrieb, aber sie existieren nur an einer Randzone des Lebens, fernab vom pragmatischen Denken und Handeln. Das 1926 uraufgeführte Stück Ferdinand Bruckners, der in Wahrheit der Renaissance-Theaterboss Theodor Tagger ist, spielt in einem einzigen Zimmer, das von Marie (Celina Rongen) bewohnt wird. Auf was sie sich vorbereitet, ist ihre eigene Promotionsfeier, die sie mit ihren schrägen Kommilitoninnen und Kommilitonen ereignisreich zelebrieren möchte. (...)Die von den Sinnen angestachelten Leidenschaften wechseln rasant, die Gefühle lösen sich vom Liebhaber ruckartig los und heften sich an einen anderen. Marie beispielsweise ist mit dem Greenhorn-Dichter Petrell (Felix Strobel) liiert und weist ihre zärtlichskeitsbedürftige Zimmernachbarin Desiree (Larissa Fuchs) zurück, wendet sich dieser aber heftig zu, als sie erfährt, dass ihr anhänglicher "Bubi" Petrell die Studentin Irene (Marina Senckel) wie eine Festung erobern will. Angesichts der geistigen Manifestationen des in praktischen Dingen unbeholfenen Schrifstellers ist nur mit einer lahmen, spröden Lektoren-Prosa zu rechnen. Zwischen all den Suchenden und Verzweifelten oszilliert der Studium-Abbrecher Freder, der, eigentlich ein relativ wilder, unberechenbarer Zeitgenosse mit Neigung zu gesetzenthobener Anarchie, von Sven Scheele noch relativ moderat dargestellt wird. Er verführt das recht einfältige Zimmermädchen Lucy (Karla Sengteller), verleitet sie zu illegalem Handeln und schickt sie auf den Straßenstrich. (...) Zu all den Liebesversuchen gesellen sich noch zumeist stümperhaft ausgeführte Annäherungsversuche, das jeweilige Objekt scheint egal zu sein. Irgendwie muss man die hervorsprudelnden Leidenschaften ja kanalisieren. (...)

Die frei schwebenden Vögel ohne gesellschaftliche Verankerung haben ein gewisses Zerstörungspotential, zerstören aber nur sich selbst. (...) Rongen arbeitet mit rasanten Gefühlswechseln und verausgabt sich im wahrsten Sinne des Wortes. Fuchs' Figur, wohl die interessanteste, die, so wie sich sich gibt, fürs Bett wie geschaffen ist, ist fragil, zart, neigt aber auch zu massiven Ausbrüchen. Am Ende zergeht sie förmlich, sie zerfließt, hinein in den Untergang. (...)




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BREMER FREIHEIT



***Nominierung als Beste Nachwuchsregisseurin bei der Kritikerumfrage 2016 der Theater Heute***




Morgenpost, 22. Mai 2016

Schnaps! Kaffee! Zeitung!

von Alexander Gumz


Catharina May debütiert am Berliner Ensemble mit „Bremer Freiheit“. Ein Stück über Aufopferung, Befreiung und vergiftete Getränke.

Ein rundlicher Herr mit Schnauzer sitzt auf einem Stuhl und sagt Dinge wie: Schnaps! Kaffee! Zeitung! Fenster auf! Ruhe! Eine drahtige, dunkelhaarige Frau rennt vor ihm auf und ab. Aus dem Off kreischen Kinderstimmen: Mama – Spielzeug! In der Mitte des Raums steht, auf einer Art Laufsteg, gezackt wie ein Blitz, eine Kaffeekanne aus Blech auf einem Ofen. Daneben eine Reihe weißer Tassen.


So beginnt Catharina Mays erste Inszenierung am Berliner Ensemble: Rainer Werner Fassbinders "Bremer Freiheit", ein Stück von 1971. Und mit diesem Setting ist das meiste gesagt: Es geht um Unterdrückung, Aufopferung und Befreiung. Und um vergifteten Kaffee.

"Bremer Freiheit" ist dabei kein Kriminalstück – und das, obwohl zahlreiche Leute auf offener Bühne ermordet werden. Es ist auch kein historisches Stück, obwohl es auf einem Fall aus dem 19. Jahrhundert basiert. Es ist ein Emanzipationsstück und ein Stück über die Ausbeutbarkeit von Gefühlen – Fassbinders Grundthema, wie er selbst betonte.


Amtsanmaßung durch Denken

Die Bremerin Geesche Gottfried vergiftet zwischen 1813 und 1827 fünfzehn Menschen, darunter zwei Ehemänner, ihre Eltern, ihren Bruder und ihre drei Kinder. Sie wird nach drei Jahren Haft 1831 öffentlich enthauptet. 30.000 Menschen schauen zu. Das Stück zeigt sie nicht als Monster, geht vielmehr ihren Motiven nach. Von allen sie umgebenden Männern wird sie als jemand behandelt, der mit Denken so was wie Amtsanmaßung betreibt. Ihr erster Mann, der Herr mit Schnauzer (Georgios Tsivanoglou) behandelt sie sogar schlichtweg wie Vieh.

Er ist der Ausgang dieser Mordserie, und Fassbinders Stück sagt: Hier handelt es sich um Notwehr gegen die Macht der Männer. Drastischer noch als Fassbinders eigene, seltsam psychedelisch verfremdete Verfilmung (Meer rauscht über Blue Screens, vor denen das Ensemble auf einer fast leeren Theaterbühne agiert) werden die knalligen Szenen aneinander geschnitten, dazwischen Schwärze, Livemusik (Julius Heise).


Einfache, zugleich hoch stilisierte Figuren Choreografien. Etwa wenn Greesche in einem Kreis von Männern kniet – einer davon ihr erster, einer dann ihr zweiter Ehemann – und sagen soll: Ich liebe dich. Ich bin scharf auf dich. Und wenn sie es sagt klingt es nicht einmal gelogen. Das ist der Gegenpart der Unterdrückung: die Ausbeutbarkeit. Auch davon muss sich Greesche befreien, während sie sämtliche Vertreter patriarchalischer Strukturen und religiösen Dogmatismus um sich rum aus dem Weg räumt. Sie wird hart, wirft ihr ihr zweiter Mann, Gottfried, einmal vor (sehr gut, ein Fassbinder-Double mit Sonnenbrille: Boris Jacoby). Heute würde man sagen: professionell.


"Ich will mit all dem nichts zu schaffen haben"

Krista Birkner spielt Greesche mit einem Facettenreichtum, der plausibel macht, was das Stück selbst hin und wieder plakativ behauptet: Dass hier jemand kämpft um das simple Recht, eigene Entscheidungen zu fällen, ein eigenes Leben zu leben, und zu lieben, wen und wann sie will. Halb aus Versehen vergiftet sie auch Gottfried, der sie nach Schwängerung verlassen will, da er es angeblich nicht ertrüge, ein eigenes Kind zwischen ihren aus erster Ehe herumlaufen zu sehen. "Ich will mit all dem nichts zu schaffen haben", sagt er immer wieder. Bindungsangst galore – kein Thema, das 2016 vom Tisch wäre.

Mit jedem Tod, den sie sich aufs Gewissen lädt, wird Geesche wahlloser: eine Art Rachemaschine, die nurmehr der eigenen Verwirklichung nachlebt. Wenn sie sich in einer der letzten Szenen selbst mit Lippenstift Blutspuren auf die Arme malt und dabei von Freiheit schwärmt, hebt Birkner die Figur auf die Fallhöhe einer modernen Medea – konsequent bis zur Selbstvernichtung, aber auch hart am Irrsinn.


Aktuelle Geschichte um Selbstbestimmung

Catharina Mays Inszenierung, die sich etwas stark an Robert Wilsons Ästhetizismus orientiert, wird durch ein fulminantes Ensemble austariert: Joachim Nimtz spielt den Vater virtuos zwischen alterweise und Despot, Ursula Höpfner-Tabori brilliert als strenge, verhärmte Mutter und Axel Werner als Pater spielt fast alle an die Wand, in einer ganz kurzen Szene, kühl und komisch zugleich. Und auch das Entblößen vom zeitlichen Dekor, das in Fassbinders Verfilmung sehr theatral-präsent ist, durch Karl-Ernst Herrmanns Bühne und die Kostüme von Wicke Naujoks, tut dem Stoff gut.


Denn erschreckend, wie aktuell diese Geschichte um weibliche Selbstbestimmung in einer Welt aus Macht und Dummheit noch immer ist. Sicher laufen viele Mechanismen lautloser ab als vor 45 Jahren. Spätestens aber als Greesche sich von ihrem Bruder, aus dem Krieg zurückgekehrt, erzählen lassen muss, sie könne unmöglich als Frau die Firma ihres Vaters leiten, merkt man, wie viel noch zu tun ist, bis solche Inszenierungen vielleicht einmal überflüssig sein werden.



bz, 22. Mai 2016

Berliner Ensemble: Mordserie auf dem Laufsteg

von Olaf Mehlhose


Catharina May inszeniert das Trauerspiel „Bremer Freiheit“ von Fassbinder am Berliner Ensemble. Premiere am Samstagabend im restlos gefüllten Pavillon.


Was bringt eine Frau aus einem bürgerlichen Haus dazu, die unvorstellbarsten Verbrechen zu begehen? Dieser Frage ging Rainer Werner Fassbinder († 37) in seinem Trauerspiel „Bremer Freiheit“ von 1972 nach, in dem er den historischen Fall einer Massenmörderin auf die Bühne bringt. Catharina May inszeniert das Stück des Regie-Meisters am Berliner Ensemble. Premiere am Samstagabend im restlos gefüllten Pavillon.


Hauptfigur des Stücks ist die Serienmörderin Geesche Gottfried. Anfang des 19. Jahrhunderts vergiftete sie insgesamt 15 Menschen mit Arsen. Darunter ihre Mutter, ihr Vater, ihr Bruder, ihre beiden Töchter und zwei Ehemänner. Sie wurde zum Tod durch das Schwert verurteilt. 1831 wurde das Urteilt vollstreckt. Etwa 35 000 Menschen sahen zu.

Aber Fassbinder geht es nicht um die Tat der Giftmischerin, sondern um ihre Beweggründe. Geesche Gottfried mordet, weil sie frei und glücklich sein will. Alle Opfer standen ihr dabei im Weg: der tyrannische Ehemann, die strengreligiöse Mutter, der autoritäre Vater… Doch ihr Versuch, sich aus einer männerdominierten Gesellschaft zu befreien, endet in der Katastrophe. Am Ende reicht der geringste Anlass aus, damit sie wieder Gift in den Kaffee mischt.


Der Regisseurin gelingt es, den schwer verdaulichen Stoff erträglich zu gestalten. Weil der Zuschauer alle Morde aus der Perspektive von Geesche Gottfried erlebt, hat er sogar Verständnis für sie. Hinzu kommen die tollen Schauspieler, die auf einem Z-förmigen Laufsteg zur Hochform auflaufen – allen voran die beeindruckende Hauptdarstellerin Krista Birkner (als Geesche Gottfried). 90 temporeiche, aufregende Minuten, nach denen man erstmal keine Lust mehr auf Kaffee hat.




Das Kulturblog, 26. Mai 2016

Fassbinders „Bremer Freiheit“ am Berliner Ensemble

von Konrad Kögler


„Bremer Freiheit“ zählt nicht zu den Rainer Werner Fassbinders bekanntesten Werken, die er wie in einem Arbeitsrausch und mit massiver Selbstausbeutung in sehr hoher Schlagzahl auf den Markt brachte.


Vorlage für sein 16. Theaterstück, das 1971 in Bremen uraufgeführt wurde, war ein Kriminalfall aus der Stadtgeschichte: Gesche (oder in Fassbinders alternativer Schreibweise: Geesche) Gottfried brachte Anfang des 19. Jahrhunderts 15 Menschen um, darunter ihre beiden Ehemänner, ihre Eltern und ihre Kinder. Fassbinder erforschte in seinem Drama, das nur ein Jahr später auch als Fernsehfilm ausgestrahlt wurde, die Motive der Frau. Ganz auf der Höhe des Zeitgeistes der frühen 70er Jahre sieht er seine Hauptfigur Gesche als eine Frau, der von gefühlskalten Männern, patriarchalen Strukturen und religiösen Zwängen die Luft zum Atmen abgeschnürt wird. Aus Notwehr greift sie zum Arsen, das sie in den Kaffee träufelt.


Catharina May bringt diesen selten gespielten Stoff in ihrer ersten eigenen Regiearbeit auf die Bühne des Pavillons im Hof des Berliner Ensembles. Erfahrungen sammelte sie als Assistentin von Claus Peymann bei seiner jüngsten Handke-Inszenierung und von Robert Wilson bei seinem Faust-Musical.


In kurzen, präzise komponierten Szenen trifft die Hauptdarstellerin Krista Birkner als Gesche Gottfried auf ihre Kontrahenten, die sie in scharfem Ton mit ultimativen Forderungen bedrängen: Mal ist es der erste Ehemann (Georgios Tsivanoglou), der breitbeinig rumsitzt und sie barsch herumkommandiert. Mal ist es der Vater (Joachim Nimtz), der sie gegen ihren Willen mit einem Vetter verheiraten will. Mal ist es die verhärmte Mutter (Ursula Höpfner-Tabori), die verlangt, dass sie die Affäre mit einem Mann beendet, da sie damit Schande über die Familie bringt und gegen religiöse Gebote verstößt. Ihr Bruder (Stephan Schäfer) verlangt, dass sie ihm die Leitung des Familienbetriebs übergibt.


Die Szenen ähneln sich in der Grundkonstellation: Gesche wird in die Enge getrieben, versucht zunächst schüchtern, dann immer selbstbewusster, ihre Position klarzumachen, beißt aber auf Granit. Scheinbar lenkt sie ein und bietet mit Unschuldsmiene den tödlichen Kaffee an.

Es ist vor allem dem überzeugenden Spiel der Hauptdarstellerin zu verdanken, dass die neunzig Minuten weder langweilig wirken noch in platte Emanzipations-Rührseligkeit abdriften. Zurecht lobte die Berliner Morgenpost den „Facettenreichtum“ der Gesche Gottfried, die in ihren Handlungen nicht zum serienmordenden Monster, sondern nachvollziehbar wird.



kultur 24, 26. Mai 2016

R.W. Fassbinder im Berliner Ensemble

von Severin Lohmer


Aus gegebenem Anlass möchte ich diese Kritik einmal anders beginnen: Das Stück „Bremer Freiheit“, dass seine Premiere am 21. Mai im Berliner Ensemble feierte, ist die erste Inszenierung der jungen Regisseurin Catharina May. Die erste Regiearbeit ist für jeden Regisseur immer etwas ganz besonderes. Dazu muss man wissen, dass die meisten angehenden Regisseure nach langer Ausbildung häufig als Assistent in irgendeinem Provinznest landen und selbst dort vergeblich auf ihre erste Regiearbeit warten müssen. Catharina May studierte in Wien, arbeitete danach bei verschiedenen Regisseuren als Assistentin, bevor sie schließlich zum Berliner Ensemble kam. Zur Entscheidung, Catharina May ihr erstes Stück am BE inszenieren zu lassen, kann man dem Intendanten Claus Peymann nur gratulieren.


Rainer Werner Fassbinders 16. Bühnenstück „Bremer Freiheit“, uraufgeführt 1971 (und von ihm selbst 1972 verfilmt), geht auf eine Anfang des 19. Jahrhunderts tatsächlich stattgefundenen Mordserie in Bremen zurück. Gesche Gottfried mordete dort mehrere Jahre in ihrem engeren Umfeld. Ihre beiden Ehemänner, ihren Liebhaber, drei ihrer Kinder, ihre Eltern und weitere 7 Personen. Sie war 1831 in Bremen die letzte Frau, die öffentlich enthauptet wurde. Noch heute gibt es einen Erinnerungsstein am Bremer Dom.


Natürlich geht es Fassbinder nicht nur um die spannende Kriminal-geschichte, sondern um die Motivlage. Warum wird eine Frau zur Mörderin? „Bei mir geht es um die Ausbeutbarkeit von Gefühlen, von wem auch immer sie ausgebeutet werden.“ – „Meine Auffassung von Liebesgeschichten klassischer Art ist, dass Zweierbeziehungen Unterdrückungsstrategien der bestehenden Gesellschaft sind.“

Ein Kriminalhauptkommissar aus der heutigen Zeit zum Wesen weiblicher Tötungskriminalität: „Wenn Frauen töten, dann hat das immer auch etwas mit Männern zu tun. Ihre Taten basieren häufig auf zwischen-menschlichen Konflikten, die gravierend sind oder als gravierend empfunden werden und mit einer Fremdbestimmung durch den männlichen Partner einhergehen. In der Mehrzahl der Fälle sollen durch die Tat Beziehungen verhindert oder beendet oder ermöglicht werden – inkriminierte Befreiungsschläge.“


Der Bühnenbildner Karl-Ernst Hermann hat eine einfache, aber sehr vielseitig bespielbare Bühne geschaffen. Ein roter Laufsteg zieht sich wie ein Blitz durch den Raum, die dazugehörige Beleuchtung erinnert sehr an Catharina Mays ehemaligen Meister Robert Wilson und die einzigen Requisiten bestehen aus 15 harmlosen Kaffeetassen.


Catharina May kann im Berliner Ensemble auf ein wunderbares Ensemble zurückgreifen: Da ist zunächst die Hauptfigur, Krista Birkner, die sehr einprägsam eine kraftvolle Frau spielt, die einfach nur leben und lieben möchte und nur durch die Umstände zu einer beängstigenden Mörderin wird. Ursula Höpfner-Tabori überzeugt als strenge, vom Leben gezeichneten Mutter. Und bei den Männern treten vor allen Joachim Nimitz als Vater der Mörderin und Axel Werner als Pater hervor.


Wie lebte und liebte Fassbinder als Regisseur in seinem Verhältnis zu seinen Darstellerinnen? In seinem Stück „Bremer Freiheit“ traut keiner einer Frau zu, den Betrieb ihres Mannes zu übernehmen. Das hat sich heute mit Angela Merkel und vielen weiblichen Frauen in der Politik sehr geändert.


In der Welt des Theaters sieht es leider anders aus: Während noch vor wenigen Jahren 16 % der Theaterhäuser von Frauen geführt wurden, sind es heute nur noch 7 %. Ab 2016 müssen börsennotierte Konzerne 30 Prozent ihrer Aufsichtsratsposten mit Frauen besetzen. Ob sich solch eine Regelung jemals für Theater durchsetzen ließe, die uns doch so gerne den Spiegel der Gesellschaft vorhalten?



pagewizz, 22. Mai 2016

Berliner Ensemble: Kritik von "Bremer Freiheit"

von Steffen Kassel


Premiere im Pavillon. Rainer Werner Fassbinder reloaded. Eine desillusionierte Giftmischerin tötet Ehemänner, Verwandte und Bekannte, um sich den Weg freizuschaufeln.


Momentan schaltet und waltet das Berliner Theatertreffen. Angesichts des Großspektakels droht diese Premiere beinahe unterzugehen. Dabei war das von Fassbinder inszenierte "bürgerliche Trauerspiel" 1972 beim Theatertreffen vertreten. Aber Theaterfunktionäre, Kritiker und Berufszuschauer interessieren sich mehr fürs Aktuelle. Nun, ein wenig anachronistisch ist das Thema von "Bremer Freiheit" schon. Das Stück spielt im Bremen der 1820er-Jahre, wo die vordergründig brave Ehefrau Geesche jeden, der ihr in die Quere kommt, mit Arsen wegräumt. Alle wollen ihr ins Leben hineinreden, über sie bestimmen und ihre Emanzipationsbekundungen im Keim ersticken. Insgesamt kommen durch ein infernalisches Kaffeegemisch 15 Menschen zu Tode. Geesche gerät nach einer anfänglichen Initiationsphase in einen unkontrollierten Todesrausch: Schon beim Anklingen eines kleinen Unterdrückungsversuchs wird ein vermeintlicher Privatusurpator in den Himmel geschickt.

Trotz der serienmäßigen Morde will sich keine Routine einstellen.

Die Bühne (Karl-Ernst Herrmann) besteht aus einem langen Laufsteg, der an den beiden Enden zackige Ausläufer aufweist. Wie beim Catwalk sitzen die Zuschauer rechts und links außerhalb der Schneise. Auf der Bühne steht allerdings kein Model, sondern die Schauspielerin Krista Birkner, die von einem Entsetzensanfall in den nächsten rutscht. Sie ist keine strategisch vorgehende Killerin, die routiniert und kaltblütig ihre Selbstjustiz ausführt. Erst beim Mord an Luisa Mauer entfaltet Geesche, die den Vorwurf, ihr Leben sei eine Hölle, nicht ertragen kann, eine von reiner Boshaftigkeit getragene Gewohnheitscleverness. Kaum ist das Gift im Körper, setzt sie ihre noch lebendige Freundin Luisa davon in Kenntnis. Fassbinder-Kenner erinnern sich womöglich an Hanna Schygulla aus der Originalverfilmung, an deren Personal sich vor allem Peymann aus Berufsgründen erinnern mag. Wer da auf dem Boden liegt, ist nun Karla Sengteller, erstarrt wie eine in Blei gegossene Statue, die vom Medusenblick getroffen wurde.

Man trägt gerne Leder (Kostüme: Wicke Naujoks). Die Schauspieler sehen aus, als kämen sie gerade vom letzten Rockertreffen. Georgios Tsivanoglou, der mit nassem geglättetem Haar auftritt, das im Nacken zu einer kranzartigen Lockenpracht ausufert, stirbt, kaum dass er da ist. Boris Jakoby als ihr zweiter Ehemann Gottfried darf länger durchhalten, nur kann er es nicht ertragen, dass seine anvisierte Gattin Geesche zwei von ihm nicht gezeugte Kinder mitbringt – der Metzger Oskar aus Horváths "Geschichten aus dem Wiener Wald" lässt grüßen. Auch die Mutter (Ursula Höpfner-Tabori) quatscht unnötig herum mit ihren – in diesem Fall matriarchalen - Direktiven. Also muss sie eliminiert werden, wie Gottfried, der die Frau als dressiertes Haustier betrachtet. Verblüffend an dieser Inszenierung ist die Textnähe zum Original. Vom nicht eingebauten Pessar ist ebenso die Rede wie vom ungeliebten Geliebten, der dafür sorgen soll, dass "das Leben fürderhin in einer ruhigen Bahn" verläuft. Die wortgetreue Nachbearbeitung ist keineswegs ein Hindernis – es kommt darauf an, was die Schaupieler*innen daraus machen. Das Ergebnis ist nicht das Schlechteste.


Veraltetes Thema, darstellerisch durchaus innovativ

Nach anfänglichem Startschwierigkeiten gewöhnt sich Geesche allmählich an die rituelle Kraftaufwandseuthanasie. Dennoch will sich angesichts der endlosen Wiederkehr des Gleichen keine fundamentale Abstumpfung einstellen. In ihren Augen ist es ein von ihr gewollter assistierter Suizid, doch das Gesicht spricht eine andere Sprache. Krista Birkner lässt sich bei jeder im Vorfeld beschlossenen Auslöschungsnummer in eine fassungslose Erschütterung hineinfallen, die ein hohles, ausdrucksloses Entsetzen hervorbringt. Ein Gesichtsvakuum, das irgendwelche über- irdischen Mächte anzuflehen scheint – dem aber auch die Schattierungen fehlen. Ihr magentafarbenes Oberteil scheint am Leib zu kleben und zu zittern, daneben liegen die unvermeidlichen Pumps, als würden die Verhältnisse ihr permanent die Schuhe ausziehen, daneben ein Turmkocher und ein antiquarischer Wasserkessel. Fassbinder hat bei jedem rituellen Mord Klaviermusik einspielen lassen – die Neuregisseurin May verzichtet darauf. Stattdessen arbeitet sich der Musiker Julius Heise am Xylophon oder Marimba ab, um etwas Atmosphäre zu schaffen, die die Zuschauer nicht emotional einlullt. Sicherlich, die emanzipatorischen Überlebensversuche von Geesche sind veraltet, heute würde eine freiheitslüsterne Frau das private und berufliche Umfeld oder gar die Stadt wechseln, um in einer nichtehelichen Lebensgemeinschaft (früher "wilde Ehe") ihr Glück zu suchen. Dennoch ist die Inszenierung von Catharina May ein Stück realer Geschichte. Und die Darstellung ist nicht museal, sondern hochmodern. Ein bescheidener Ort im kleinen Pavillon, aber ein jederzeit kurzweiliger Abend, der viel aus der Vorlage herausholt.